„...was sollen all die schönen Reden über das Völkerrecht, das vom Sicherheitsrat ausgeübt wird, wenn Deutschland einer Resolution zum Schutz der libyschen Bürger vor einem brutalen Regime, das mit allen Mitteln um sein Überleben kämpft, die Zustimmung verweigert?“,
fragte Joschka Fischer am 24. März 2011 in der Süddeutschen Zeitung - acht Tage nachdem Außenminister Guido Westerwelle die deutsche Enthaltung in der UN-Sicherheitsratsabstimmung über die Resolution 1973 angekündigt hatte. Durch die Resolution 1973 autorisierte der UN-Sicherheitsrat ein militärisches Einschreiten in den libyschen Bürgerkrieg zum Schutze von Zivilisten. Fischer war dabei bei weitem nicht der Einzige, der sich gegen die Politik der Bundesregierung in der Libyen-Frage zu Wort meldete. Die Kritik an der schwarz-gelben Position zog sich durch fast alle Parteien und bestimmte auch weitgehend den Tenor der großen Medien.
Das Argument vom „Schutz der libyschen Bürger vor einem brutalen Regime“ ließ die Position sich gegen eine westliche, „humanitäre Intervention“ zu stellen geradezu als Verbrechen erscheinen. Die Grundlage dieses Argumentes ist die Idee, dass die elementaren Menschenrechte universell gültig seien und dass es daher eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sei grobe Verstöße gegen sie zu verhindern. Scheinbar eine sehr konsequente Umsetzung der Idee menschlicher Gleichheit, nach der der Westen sich im Dienste seiner Ideale zu selbstlosem Engagement bereit zu erklären scheint.
Schutz versus Souveränität
Allerdings ist die Intention hinter dem Völkerrecht Kriege so weit wie mögich zu vermeiden. Zu diesem Zweck wurde ursprünglich die Unantastbarkeit der Souveränität der Staaten zu einem ehernen Grundsatz der internationalen Beziehungen erhoben. Da jedoch das Gewaltmonopol über das eigene Herrschaftsgebiet eines der entscheidenden Charakteristika staatlicher Souveränität darstellt, fallen innerstaatliche Konflikte unter die alleinige Verantwortung des betreffenden Staates. Die internationale Gemeinschaft ist nicht zur Einmischung berechtigt. Potentielle „humanitäre Interventionen“ und das Völkerrecht geraten damit in Widerspruch.
Die Ereignisse 90er Jahre führten allerdings dazu, dass dieses Verständnis von Souveränität überdacht wurde. Nach dem Kosovokrieg und insbesondere nach dem Völkermord in Ruanda 1994, der die bisherige Praxis der UN - Friedensmissionen auf äußerst plakative Weise ad absurdum geführt hatte, entstand auch öffentlicher Druck auf die Regierungen des Westens. So wurde 2000 eine „International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS)“ einberufen, die Richtlinien für zukünftige „humanitäre Interventionen“ ausarbeiten sollte und 2001 in ihrem Abschlussbericht die „Responsibility to Protect“ erstmalig erwähnte. Dies ging zwangsläufig mit einer Neuinterpretation des Konzeptes der Souveränität einher. Um den Widerspruch zwischen der Unverletzbarkeit des Staatsterritoriums und einer „Schutzverantwortung“ zu lösen wurde Souveränität fortan an die Verpflichtung eines Staates die Menschenrechte seiner Bürger zu schützen gekoppelt. So heißt es im erwähnten Bericht der ICISS:
„Thinking of sovereignty as responsibility, [...] it implies that the state authorities are
responsible for the functions of protecting the safety and lives of citizens and promotion of
their welfare...“.
Danach verwirke jeder Staat in dem es zu Menschenrechtsverletzungen kommt seinen Anspruch auf territoriale Integrität.Dadurch wurde neben dem Selbstverteidigungsrecht im Falle eines Angriffs eine weitere Ausnahme vom sonst generellen Gewaltverbot im Völkerrecht geschaffen.
Friedenstruppen nach Guantanamo?
In den Gefangenenlagern auf dem US-amerikanischen Militärstützpunkt Guantanamo Bay, werden Terrorismusverdächtige, unter ihnen auch Jugendliche, ohne gerichtliche Verfahren festgehalten. US-Gerichte haben dies für rechtswidrig erklärt und es als einen Bruch der Genfer Konvention bezeichnet, da den Häftlingen der rechtliche Status eines Kriegsgefangenen verwehrt bleibt. Aus den gleichen Gründen forderte sowohl der Europarat als auch die UN-Menschenrechtskommission die Schließung der Lager. Trotz dieser breiten Erkenntnis über die Menschenrechtsverletzungen der US-amerikanischen Armee in Guantanamo Bay bestehen die Gefangenenlager bis zum heutigen Tag. Eine humanitäre Intervention der internationalen Gemeinschaft 'zum Schutz der Internierten vor dem brutalen Regime', dem sie dort unterliegen, war selbstverständlich nie Thema. Ebensowenig waren es je die Taten russischer Militärs in Tschetschenien oder chinesische Verbrechen in Tibet. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen, die nie zu Überlegungen einer Intervention führten, wie auch die Liste derer, die in der westlichen Öffentlichkeit keinerlei Beachtung finden, ließe sich endlos fortführen.
Es ist also fraglich welche Kriterien es tatsächlich sind, die die Frage nach “humanitärer Intervention“ aufwerfen. UN-Mandate können grundsätzlich vom Sicherheitsrat und von der Generalversammlung erteilt werden. Da allerdings nur Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates völkerrechtlich bindend sind, liegt die Deutungshoheit darüber, wann eine Bevölkerung vor ihrer eigenen Regierung geschützt werden müsse, allein bei dem Gremium, in dem jeder Beschluss die Zustimmung der ständigen Mitglieder China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA erfordert. Faktisch entscheiden also diese Großmächte, wann und wo den Menschenrechten Geltung verschafft wird. Die Annahme, dass eine derartige Entscheidungsfindung mehr von der Motivation das Menschenrecht zu schützen, als von politischen und wirtschaftlichen Interessen geleitet ist, ist wohl mit dem Attribut 'naiv' noch recht wohlwollend beschrieben.
Und wenn alles anders wäre?
Man könnte im Zusammenhang dessen nun eine Reform dieser Entscheidungsstruktur fordern. Doch was wenn beispielsweise auch die Entscheidungen der Generalversammlung rechtlich bindend wären? Würde dann wirklich das Prinzip „Ein Land, eine Stimme“ über die Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen gewalttätige Regime entscheiden? Da die UN über keine eigenen Interventionstruppen verfügt, würde auch weiterhin jegliche Militärintervention davon abhängen, ob sich Mitgliedsstaaten finden, die bereit und in der Lage sind ihre Kapazitäten zur Verfügung zu stellen. Daher wären auch unter diesen Umständen demokratische Verhältnisse auf internationaler Ebene nicht gewährleistet. Darüber hinaus teilt die „Responsibility to Protect“ das internationale Parkett naturgemäß in zwei Lager: Einerseits zeichnet sich die Gruppe von Staaten ab, die über genügend militärische Mittel verfügen um „humanitäre Interventionen“ überhaupt durchführen zu können. Andererseits gibt es die ungleich größere Gruppe derer Staaten, denen solche Kapazitäten nicht zur Verfügung stehen und die folglich vom Konzept der Schutzverantwortung nur als Objekte einer Intervention tangiert werden können.
Aus Sicht der Staatsführungen der 'zweiten Gruppe' wäre es nur verständlich angesichts einer sich etablierenden Responsibility to Protect mehr Mittel in die Rüstung fließen zu lassen. Dass dies mit einer Reduzierung der Mittel für andere Ressorts in den betreffenden Ländern einhergehen müsste, ist selbstverständlich.
Es liegt also der Schluss nahe, dass innerhalb einer nationalstaatlich organisierten Weltordnung, wie der heutigen, die Idee die Menschenrechte zu schützen wenig mehr sein kann als ein schönes, legitimatorisches Gewand für die militärische Durchsetzung geopolitischer Interessen der einflussreichen Staaten. Um ein universell gültiges Menschenrecht konsequent geltend zu machen, bedürfe es einer finanziell und politisch unabhängigen und über allen Staaten stehenden Instanz. Von der Existenz einer solchen Instanz ist die Welt heutzutage wohl denkbar weit entfernt. Auch deren notwendige echte demokratische Legitimation ist unter den jetzigen Bedingungen einer fehlenden, funktionierenden Weltöffentlichkeit ein unlösbares Problem.
Angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen kann ein Konzept wie die Responsibility to Protect lediglich dazu dienen den Einfluss der Großmächte auf der ganzen Welt zu mehren – das Recht des Stärkeren auf der internationalen Ebene also 'durch die Blume' wieder stärker zu etablieren.