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16. Juni 2011

2011 – Das Jahr der Revolutionen?

In Tunesien, wo die arabische Jasminrevolution im Dezember des letzten Jahres begann, stehen die ersten Wahlen nach Ende der Diktatur Ben Alis unmittelbar bevor. Am 24. Juli soll nach einem der demokratischsten Wahlgesetzte der Welt eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Die Eckpunkte hierfür klingen dabei progressiver als viele Wahlgesetze aus westlichen Staaten: so soll es eine unabhängige Wahlkommission, Geschlechterparität und allgemeines Verhältniswahlrecht geben.[1]

 

Widersprüche und Rückschläge

 

Diese hoffnungsvollen Vorzeichen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass  – wenn auch die Hochphase der Revolution vorbei ist – die Revolution selbst noch weiter geht und damit auch ihr Ausgang weiter Ungewiss bleibt. Das wissen auch zahlreiche Demonstranten, die auch viele Monate nach dem offiziellen Ende des alten Regimes immer wieder auf die Straße gehen. Befürchtungen, dass es zu einem Militärputsch oder einer Machtergreifung der Islamisten kommen könnte, treiben sie auf die Straße. Auch von einem Komplott gegen die Demokratisierung ist teilweise die Rede. Außerdem sitzen zahlreiche Funktionäre und Technokraten des alten Regimes weiterhin in den Posten von Verwaltung, Wirtschaft und des Sicherheitsapparates.[2] Der weitere Weg, den die tunesische Revolution nehmen wird, bleibt jedenfalls ungewiss.

Ein ähnlich widersprüchliches Bild zeigt sich in Ägypten. Hier versucht die militärische Übergangsregierung mit „eiserner Faust“ die Ordnung im Land aufrechtzuerhalten und verfällt dabei in die alten autoritären Muster des Regimes Mubarak zurück. Verhaftungen und Drangsalierungen, die jeder Grundlage entbehren, und sogar Folter haben nach Ende der Ära Mubarak kein Ende genommen. Zudem steht noch kein konkretes Datum für zukünftige Wahlen fest.[3] Vor diesem Hintergrund scheint es nicht übertrieben zu sagen, dass hier die Revolution erst am Anfang steht.

 

Verantwortung zur Veränderung

 

Die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Syrien, Libyen und dem Jemen beweisen einmal wieder: Revolutionen stecken voller Widersprüche. Sie können auf ihrem Weg zur Emanzipation in Konterrevolution, Restauration und Reaktionismus umschlagen, blutig niedergeschossen werden, in Bürgerkriege oder Terror münden oder einfach im Nichts versanden und sind in ihrem exakten Ausgang stets unberechenbar. Die Risiken mögen gewaltig wirken; derart gewaltig, dass die Mehrheit der politischen Elite schnell dabei ist, den Ruf nach Widerstand, Veränderung und Revolution als unverantwortlich zu diffamieren. Wir halten dagegen vor dem Hintergrund des täglich stattfindenden Leids, das Diffamieren dieses Rufes für die wahre Unverantwortlichkeit. Sich nicht gegen ein System zu wenden, dass auf Folter, Ausbeutung und Unterdrückung aufbaut und Armut, Unterernährung und Hungertode bewusst in Kauf nimmt, seine rasche Abschaffung nicht mit allen notwendigen Mitteln zu fordern, ist die eigentliche zynische Unverantwortlichkeit.

Dennoch kann auch der Aufruf zur Revolution verantwortungslos sein. Er ist es stets dann, wenn dieser tatsächlich nicht mehr ist als ein Aufruf zur Revolte, zum Aufstand ohne Inhalt und Ziel. Denn eine Revolte ohne jeglichen Inhalt ist ihrem ganzen Wesen nach unpolitisch und  hat damit auch keine Chance zu einer sozial-emanzipatorischen Veränderung zu führen. Die herrschenden Eliten werden eine derartige Revolte problemlos zu kriminalisieren wissen und damit jegliche solidarische Unterstützung aus der Bevölkerung verhindern.

 

Das Wesen der sozialen Revolution

 

Eine wirkliche sozial-emanzipatorische revolutionäre Bewegung – egal ob in einem Entwicklung-, Schwellenland oder einem Industriestaat – muss dagegen permanent parallel zur Praxis über ihre Ziele und ihr eigenes Vorgehen reflektieren. Nur so kann sie verhindern, dass sie kriminalisiert wird oder  sich nach der Hochphase der Revolution von ihren ursprünglichen Zielen entfernt. Diese Gefahren gehen zwangsläufig mit der Revolution einher. Denn jeder revolutionäre Prozess birgt das Risiko, dass die Revolutionäre von einst zu den Eliten von morgen werden – Eliten, die dann kaum besser sind als die alten. Diese Gefahr kann nur dadurch begegnet werden, dass sich die Revolutionäre dieser Gefahr bewusst sind. Im Bewusstsein dieses Risikos muss es ihr Ziel sein, sich mittel- und langfristig entbehrlich zu machen.

Dies ist nur möglich, wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass der gesamtgesellschaftliche Wandel, den sie fordern, einen individuellen Wandel mit einschließt. Wenn sie sich darüber im Klaren sind, dass sie vielleicht einige Dinge erkannt haben, die andere noch nicht erkannt haben, aber dass sie selbst noch kein emanzipatorisches Bewusstsein entwickelt haben und auch gar nicht im Rahmen der alten Gesellschaft entwickeln konnten. Sie müssen also wissen, dass stets dann, wenn sie in die Öffentlichkeit wirken, wenn sie diese "erziehen" auch stets von dieser selbst "erzogen" werden müssen. Genau das meint Marx, wenn er in der 3. Feuerbachthese schreibt, dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Der Erzieher muss von der Masse der Bevölkerung und vom Revolutionsprozess selbst erzogen werden. All das ist eben nur möglich, wenn das eigene Handeln stets erneut in Frage gestellt wird. 

Revolution ist damit – wie Rudi Dutschke schon sagte – „nicht eine Sache von Tagen, wo geschossen wird und Auseinandersetzungen stattfinden. Es ist vielmehr ein langer, lang andauernder Marsch und Prozess, um die Schaffung von neuen Menschen, die fähig sind, nicht eine Clique durch eine andere zu ersetzen – nach der Revolution; sondern massenhaft Demokratisierung von unten, bewusste Produzentendemokratie entgegenzusetzen bürokratischer Herrschaft von oben.“[4] Weiter heißt es, dass wir diesen Kampf fortzuführen hätten und dass daran jeder Mensch beteiligt ist, wo auch immer er sich in der Welt befinden mag. Es lässt sich hinzufügen, dass dieser Kampf keine Grenzen kennt, weder nationale, soziale noch die  imaginäre Grenze des Privaten, an der schon viele Revolutionäre fälschlicherweise ihr politisches Engagement enden ließen. Lasst uns mit der Revolution bei uns selbst beginnen ohne bei uns selbst zu enden.

 


[1] Jean-Pierre Séréni, Mai 2011: Tunesien bringt sich Demokratie bei, in: le monde diplomatique

 

 

[3] Kate Allen – Vorsitzende von Amnesty International in GB: Die eiserne Faust, in: der Freitag; www.freitag.de/politik/1123-die-bastille-das-ist-lange-her

 

[4]  Rudi Dutschke zum Revolutionsbegriff: www.youtube.com/watch

 

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